David A. Robertson, Julie Flett: Als wir allein waren

(ISBN 9783958780347, 2020, ab 6 Jahre)

‚Nokom (meine Großmutter) warum trägst du so viele Farben?‘ fragt die Enkelin beim gemeinsamen Arbeiten im Garten. Sehr behutsam doch zugleich mit der ganzen Grausamkeit des Erlebten erzählt die Großmutter ihrer Enkelin, wie es bei ihnen damals zuhause und im Gegensatz dazu im Internat “ war. Zuhause trug sie bunte Kleider und ihr Haar offen und lang, sprach Cree und hatte enge familiäre Bindungen. In sogenannten „residental schools“, die in Wahrheit Umerziehungsheime waren, war dies alles verboten. Weit weg von zuhause wurden die Kinder der First Nations in Kanada von Mitte des 19. Jahrhunderts bis 1996 durch verschiedene Maßnahmen gezwungen, alles Identitätsstiftende zu vergessen. Bunte Kleidung wurde durch Schuluniformen ersetzt, die langen Haare abgeschnitten, die Sprache verboten und die Familie, auch die Geschwister, wurden voneinander getrennt. ‚Sie wollten nicht, dass wir stolz waren. Sie wollten, dass wir sind wie alle anderen.‘ Jeder dieser bitteren und diskriminierenden Erfahrung, die darauf abzielte, die Identität der Kinder als Cree zu zerstören, stellt die Großmutter kleine Akte des Widerstands entgegen, die sie mit den anderen Kindern wagte. Im Herbst rollten sie sich im bunten Laub und ‚wir waren glücklich‘. Sie flochten sich Halme ins Haar, damit sie wieder lang wurden und waren glücklich. Heimlich sprachen die Kinder Cree und heimlich hielt sie den Bruder an der Hand, ‚wenn uns niemand sah.‘ Diese Selbstermächtigung ist wohl auch der Grund, warum die Großmutter heute stolz sagen kann ‚Heute trage ich immer die schönsten Farben.‘

Für die Enkelin, von der Großmutter in Cree ‚Nosisim‘ „meine Enkeltochter“ genannt und für die 5-6 Jährigen Leser*innen ist die in der Vergangenheit erlebte Diskriminierung der Großmutter, festgeschrieben im amerikanisches Schulsystem und ausgeübt durch die Pädagog*innen, nachvollziehbar und auszuhalten, weil sich die Kinder schon in der damaligen Situation der Diskriminierung wehren konnten und die Großmutter heute eine selbstbewusste Frau ist, die sich ihre Identität als Mitglied der First Nations erhalten konnte.

David A. Robertson und Julie Flett ist ein herausragendes Buch über Diskriminierung und Wider­stand gelungen. Die Tatsache, dass viele Kinder durch diese gewaltvolle Umerziehung massive Schäden erlitten und nicht wenige dies nicht überlebten wird nicht thematisiert und wäre dem Alter der Zielgruppe auch nicht angemessen. Behutsam und klar wird die Entfremdung der Kinder von ihren Eltern durch pädagogische Einrichtungen dargestellt. Kinder, die auch heute noch in Kita und Schule nicht ihre Erstsprachen sprechen dürfen, für die diese Orte immer noch ein Ort der Anpassung sind und die sich dadurch immer irgendwie falsch fühlen, können sich mit der Groß­mutter als Kind identifizieren und gestärkt werden. Im Buch werden die Verwandtschaftsbezie­hungen in Swampy-Cree-Sprache geschrieben, um der Sprache Wertschätzung zu verschaffen. Auch dies kann Kinder, die ihre Sprachen in Kita und Schule als wertlos erleben, ermutigen sich gegen die Diskriminierung ihrer Erstsprache zu wehren. Der wiederholende Charakter der Erzähl­weise ist angenehm und verleiht dem Buch eine übersichtliche Struktur, die Illustrationen unter­streichen die Thematik der Erzählung. Erzählt die Großmutter von heute, werden ihre Power und ihr Widerstand durch kraftvoll leuchtende Farben hervorgehoben. Die diskriminierenden Erfah­rungen wirken durch die überwiegend tristen Grau- und Brauntöne noch erdrückender. Den Wi­derstand der Kinder macht die Illustratorin durch zarte Farbtupfer und Farben deutlich.Im Anhang erklärt der Autor die Geschichte des Buches und verwendet u.a. ein Zitat, in dem das I-Wort vor­kommt. In diesem Zitat, „den I… im Kind töten“, wird ein System kritisiert, das die Identität der First Nations zerstören und die Kinder den Eltern entfremden sollte. (Quelle Kinderwelten)